Über den Schmerz schwul zu sein
Eine Revision von Coming Out, Heiner Carow (1998, DDR)
Heute suche ich mich selbst
Coming Out in der Regie von Heiner Carow verhandelt auf solch kluge und einfühlsame Weise schwules Leben, dass sich eine Revision des queeren Klassikers zum Pride Month lohnt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Phillip und Tanja, Lehrkräfte an derselben Schule, gehen eine Beziehung ein. Während Tanja sich heftig verliebt versucht Phillip seine wahre Sexualität zu kaschieren – mit geringem Erfolg, zumal er sich auf den jüngeren Matthias einlässt, der ihm im Laufe der Handlung immer mehr bedeutet. Wir sehen Phillip hauptsächlich bei der schmerzhaften Selbstfindung zu. Herzzerreißend ist auch das Drehbuch von Wolfram Witt, zumindest dann, wenn man sich auch nur ungefähr mit den Schmerzen beschäftigt hat, die eine nicht-heterosexuelle Lebensweise mit sich bringt. Dialoge, die wehtun, das manifestiert sich bildlich bereits in der Eröffnungsszene: Wir sehen zu, wie Matthias im Krankenhaus der Magen ausgepumpt wird, scheinbar, weil er ,,etwas eingenommen‘‘ hat, was da in diesen Körper nicht hingehört. Ein tränendes Gesicht, ein eingeführter Schlauch – nach der Behandlung schließlich die Frage der Ärztin, warum er das gemacht hat. Der verweinte Matthias gibt uns stotternd kund: Ich bin schwul.
Vor und nach der Mauer
Im heutigen Berlin ein wohl nicht (mehr) so herzspaltendes Thema, hielt sich die Aktualität des Sujets global in verschiedenen Schichten und Gruppen sozialen Zusammenlebens. Die Offenlegung der Schwierigkeiten Homosexualität privat, ja gar öffentlich in der DDR zu verhandeln, lässt sich heute etwa mit dem Leiden migrantischer queerer Männer vergleichen, ganz besonders im Hinblick auf das hetero/homo-sexuelle Doppelleben des Protagonisten. Die Verwendung originaler Schauplätze schwuler Treffpunkte der DDR – größtenteils heute nicht mehr existierende Bars – und die Darstellung der (sexuellen) Partnersuche einer ,,Cruising Area‘‘ in einem Park bei Nacht entziffern sich bei moderner Sichtung als Hommage an ein Berlin des queeren Untergrunds. Und doch ist gerade die Anonymität der Figuren, etwa, wenn sich Phillip im späteren Verlauf auf die Suche nach Matthias macht und feststellen muss, dass in den Schwulenbars niemand über den Nachnamen oder die Adresse der anderen weiß, ein verbliebenes Vermächtnis der Unterdrückung homosexuellen Lebens.
Die Gespräche mit der eigenen Mutter oder die Interaktionen mit den Schüler*innen am Arbeitsplatz, die irgendwann etwas zu ahnen scheinen, verdeutlichen die Konsequenzen alternativer Liebesformen - nicht zuletzt sind Szenen der Gewalt (Neonazis an Ubahn-Stationen) eventuell klischeehaft, nicht aber außerhalb des sozialgeschichtlichen Rahmens des Themas.
Schwul aber schön oder: Twinks everywhere
Der Film gibt emotional viel und nimmt Platz für die Identifikationen in den vielschichtigen Problemen ein – und doch bleibt ein kritischer Beigeschmack was die gezeigten (nackten) Körper angeht. Phillip hat funkelnd-blaue Augen, einen schlanken und definierten Körper und verliebt sich in Matthias, einen jungen, modischen und ebenfalls normschönen Mann. Auf der Suche nach sexueller Befriedigung, im Park bei Nacht, kommt es – wie sollte es anders sein – mit einem anderen jungen, schlanken Mann (der Begriff des Twinks ist mittlerweile beinahe im Mainstream angelangt) zum Sex. Selbst jener Mann, mit dem Matthias an anderer Stelle eng umschlungen tanzt, ist normschön, ja sogar die Person, die an der Ubahn-Station Gewalt erfährt, entspricht dem gleichen Körpertyp. Sei es auch ungerecht, eine Diversität von Körper und Typen für einen ohnehin ambitionierten Film aus 1989 zu verlangen, greift hier dennoch das Diktat der schönen Menschen, denen Sex vor der filmpoetischen Kamera gebührt. Selbst dann, wenn es schwuler Sex ist. Schaut man sich die Probleme auf Dating Apps, speziell für queere Männer an (Formulierungen wie ,,not fats‘, ,,fit only‘‘ oder ,,no blacks‘‘ in zahlreichen Profilen auf Grindr), ist der Ausschluss von gewissen Untergruppen in einer ohnehin schon marginalisierten Sozialschicht ein wunder Punkt. Verständlich ist, dass für diesen Subkontext im Filmland DDR zu diesem Zeitpunkt wohl kein Platz eingeräumt werden konnte bzw. diese Auseinandersetzung noch gar nicht stattfand.
Trotz deutlichem Kritikpunkt aus der heutigen queeren Linse ist der Film wichtig geblieben. Er fungiert als Kommunikator und direkter Ausdruck vom Schmerz der Andersartigkeit. Sehr kluge Dialoge und eine poetische Bildführung formen einen Schatz explizit schwuler Filmkultur – eine dringende Empfehlung nicht nur zum Juni!